Es war das Frühjahr 2015.
Mika war klein – äußerlich. Aber in ihm tobte eine Welt, die größer war als viele Erwachsene sie je verstehen würden. Er war vier. Und er war bereits so viel mehr: ein Träumer, ein Denker, ein Rückzugsmeister, ein Forscher. Und er war autistisch. Damals wussten das viele noch nicht. Einige wollten es nicht wissen. Aber ich wusste: Mika braucht mehr – nicht weniger.
Spielzeit ist nicht nur Spiel – sie ist ein Fenster in die Seele
Dreimal die Woche kam jemand zu uns. Zwei bis vier Stunden. Ein vertrautes Gesicht. Jemand, der nicht bewertet, nicht fordert, nicht drängt – sondern spielt. Spielzeit war Mikas sicherer Raum.
Er spielte gern Polizei gegen Diebe, Ritter, Drachen, Piraten. Fantasie war sein Zufluchtsort. Und doch war jeder neue Vorschlag, jede Umstellung im Spiel, eine potenzielle Krise. Wenn etwas anders war als erwartet – wenn Figuren vertauscht wurden, Regeln sich veränderten, neue Gesichter auftauchten – dann brach seine Ordnung zusammen.
Nähe ist ein Geschenk – und eine Entscheidung
Körperkontakt war für Mika ein empfindliches Thema. Selbst ich als Mutter durfte ihn oft nicht berühren. Keine Küsse, keine Umarmung, wenn er nicht bereit war. Nur sein kleiner Bruder Luis durfte ganz selbstverständlich in seiner Nähe sein – wie ein Schlüssel zu einem Raum, der sonst verschlossen blieb.
In Momenten der Überforderung schrie Mika. Oder versteckte sich. Oder schmiss Spielsachen. Manchmal biss er. Aber nicht aus Bosheit – sondern weil Worte ihn verließen, wenn Gefühle zu laut wurden.
Manchmal stand er einfach da. Schwitzend. Augen zugekniffen. Die Welt zu grell, zu nah, zu schnell.
Kindergarten – mehr als eine Herausforderung
Mika mochte den Kindergarten nicht. Und doch ging er manchmal hin. Wenn ich ihn begleitete. Wenn wir einen Rückzugsraum fanden. Wenn niemand zu laut war. Oder zu schnell. Oder zu viele Kinder auf einmal „Hallo“ sagten.
Sein Highlight in diesem Jahr? Eine einzige Stunde Kinderfasching. Mit Kostüm. Mit Lachen. Mit allem, was ihn gleichzeitig überforderte und wachsen ließ.
Danach war er erschöpft wie nach einem Marathon.
Körperhygiene – ein täglicher Kraftakt
Anziehen. Waschen. Zähneputzen. Jede dieser Tätigkeiten war für Mika ein eigener Berg. Manchmal zog er sich komplett wieder aus, wenn nur ein Kleidungsstück „falsch“ war. Bestimmte Stoffe? Unerträglich. Wasser im Gesicht? Ein Drama. Die Windel? Ein Kampf aus Scham, Trotz, Überforderung.
Jede Nacht war ein Balanceakt. Zwischen Nähe und Rückzug. Zwischen „Fass mich nicht an“ und „Bitte geh nicht weg“.
Fortschritte, die andere nie sehen
Sein Blickkontakt wurde besser. Er lernte, sich manchmal auszudrücken, was ihn stört. Und vor allem: Er wartete auf die Spielzeit. Er freute sich. Er sagte: „Wir spielen doch jetzt!“ – und das war seine Art zu sagen: „Ich vertraue dir.“
Er lernte, seinem kleinen Bruder zu helfen, wenn dieser weinte. Und er lernte, sich selbst ein wenig mehr zu verstehen. Das war keine Selbstverständlichkeit – das war pure Entwicklung, Tag für Tag, unter den lautlosen Bedingungen seiner Welt.
Und ich, seine Mutter?
Ich war oft erschöpft. Emotional aufgerieben zwischen drei Kindern, Frühdiensten, Therapien, Behörden, Erwartungen. Aber ich habe nie aufgehört, Mika zu sehen. Wirklich zu sehen. Und ihn zu begleiten, auch wenn ich selbst manchmal niemanden hatte, der mich begleitete.
An dich, wenn du das liest:
Vielleicht ist dein Kind wie Mika.
Vielleicht ist es sensibel, laut, zart, wütend, zurückgezogen, wild und still zugleich.
Vielleicht kämpfst du auch – jeden Tag – gegen Systeme, gegen Missverständnisse, gegen Überforderung.
Dann möchte ich dir eines sagen:
Du bist nicht allein.
Du bist nicht falsch.
Du bist vielleicht einfach nur eine dieser unsichtbaren Held*innen, die jeden Tag neu aufstehen – weil ihr Kind es verdient.
Und das ist das Mutigste, was man tun kann.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen
Crazybeatautismus@gmail.com